21.5.2021

Kirchengericht ergreift Partei im Tarifstreit

Das Kirchengericht der Konföderation ev. Kirchen in Niedersachsen für mitarbeitervertretungsrechtliche Streitigkeiten hat am 30. April 2021 (Az: 3 VR MVG 12/21) durch Beschluss rechtswidrig in die Tarifautonomie der Tarifvertragsparteien des Tarifvertrag Diakonie Niedersachsen (TV DN) eingegriffen.

Der TV DN sieht in Teil C Anlage VI die Zahlung von Zulagen für Arbeit unter erschwerten Bedingungen vor. Für welche Arbeiten welche Zulagen zu zahlen sind, ist durch Dienstvereinbarung festzulegen. In § 5 Satz 2 der Anlage VI ist für den Fall, dass eine Einigung über eine Dienstvereinbarung nicht zustande kommt, geregelt, dass auf Antrag die besondere Schlichtungsstelle nach § 37a Abs. 2 MVG-K entscheidet.

Das Mitarbeitervertretungsgesetz der Konföderation ev. Kirchen in Niedersachsen (MVG-K) ist durch Beschluss der zuständigen Synoden zum Ablauf des 31.12.2019 aufgehoben. Seit dem 1.01.2020 gilt anstelle dessen das Mitarbeitervertretungsgesetz der EKD (MVG-EKD).

Das MVG-K hatte in § 37 Abs. 1 die Möglichkeit der freiwilligen Errichtung einer Schlichtungsstelle zur Beilegung von Meinungsverschiedenheiten über mitarbeitervertretungsrechtliche Streitigkeiten in Regelungsfragen, in denen ein Mitbestimmungsrecht besteht.

Allein zur Entscheidung über in den Arbeitsvertragsrichtlinien der Konföderation (AVR-K) konkret bezeichneten Fällen konnte gemäß § 37 Abs. 2 notfalls von einer Seite erzwingbar eine „Einigungsstelle als besondere Schlichtungsstelle“ gebildet werden. Diese tarifliche Einigungsstelle wurde als „besondere Schlichtungsstelle“ bezeichnet, um den Unterschied zur mitarbeitervertretungsrechtlichen Einigungsstelle wegen des vollständig unterschiedlichen Regelungsbereichs klarzustellen. Die Einigungsstelle gem. § 37 Abs. 1 entscheidet über rein mitbestimmungsrechtliche Regelungsstreitigkeiten in Fragen der Betriebsablauforganisation. Hingegen entscheidet die besondere Schlichtungsstelle über den konkreten individuellen Rechtsanspruch der Arbeitnehmer aus seinem Arbeitsvertrag. Hierzu sind sonst nur staatliche Arbeitsgerichte berufen. Diese besondere Schlichtungsstelle entscheidet auch nicht nur über Regelungsstreitigkeiten, wie sie sich au der Anwendung von Arbeitszeitmodellen des § 11 TV DN ergeben. Der vorliegend entschiedene Fall betrifft die Frage, ob die Arbeitnehmer einen konkreten Leistungsanspruch haben. Eine Vergleichbarkeit oder gar Gleichsetzung beider Formen von Einigungs-/Schlichtungsstelle verbietet sich.

In einem Streit über die Errichtung der Einigungsstelle gemäß § 5 der Anlage VI im Teil C des TV DN vertritt die Dienststellenleitung die Auffassung, dass die Regelung mit der Aufhebung des MVG-K ins Leere läuft. Nachdem das zuvor geltende MVG-K mit Wirkung zum 1. Januar 2020 durch das MVG-EKD abgelöst worden ist, fehlt der Tarifnorm ihr Bezugsobjekt. Die Bildung einer „Einigungsstelle als besondere Schlichtungsstelle" nach Maßgabe des $ 37a S. 2 MVG-K ist seither ausgeschlossen. Die Mitarbeitervertretung hat das Kirchengericht zur Einsetzung einer Einigungsstelle gem. § 5 Satz 2 der Anlage VI im Teil C des TV DN angerufen. Das Kirchengericht hat entschieden, dass nach dem Wegfall des § 37 Abs. 2 MVG-K aufgrund einer durch Gerichtsentscheid zu füllenden Regelungslücke nunmehr eine gemäß § 36a MVG-EKD zu bildende Einigungsstelle zuständig sei. Damit hat das Kirchengericht anstelle der zuständigen Tarifvertragsparteien des TV DN eine Regelung getroffen.

Das geschah in engem zeitlichen Zusammenhang stehend mit der im Schreiben vom 6. April 2021 der Gewerkschaft ver.di an den DDN erhobenen Forderung, in § 5 Satz 2 der Anlage VI im Teil C des TV DN die Worte „… besondere Schlichtungsstelle nach § 37 Abs. 2 MVG-K …“ zu streichen und durch das Wort „…Einigungsstelle…“ zu ersetzen. In § 5 Satz 3 sollen die Worte „… besondere Schlichtungsstelle …“ gestrichen werden.

Bereits die vom Kirchengericht angenommene eigene Zuständigkeit zur Beschlussfassung gem. § 62 MVG-EKD i.V.m. § 100 ArbGG ist falsch. Der gem. § 62 MVG-EKD entsprechend anzuwendende § 100 ArbGG regelt ausdrücklich die Besetzung der Einigungsstelle gem. § 76 BetrVG. Diese entscheidet in betriebsverfassungsrechtliche Regelungsstreitigkeiten, ist also vergleichbar mit der gem. § 37 Abs. 1 MVG-K bzw. § 36 a MVG-EKD zu bildenden Einigungsstelle. Hier ist eine „Entsprechendanwendung“ noch plausibel. Zwar kennt auch der § 76 Absatz 8 BetrVG eine tarifliche Schlichtungsstelle. Aber auch diese entscheidet nicht über Individualansprüche der Arbeitnehmer aus dem Tarifvertrag, sondern lediglich anstelle der betriebsverfassungsrechtlichen Einigungsstelle gem. § 76 BetrVG in den Grenzen ihres betriebsverfassungsrechtlichen Zuständigkeitsbereichs. Da das MVG-EKD keine Regelung über eine besondere Schlichtungsstelle zur Entscheidung von tarifvertraglichen Ansprüchen kennt, kann das Kirchengericht seine Zuständigkeit nicht aus § 62 MVG-EKD herleiten, weil es sich vorliegend nicht um Streitigkeiten über sich aus dem MVG-EKD ergebende Rechte handelt.

Das Kirchengericht ignoriert die Entscheidung der gliedkirchlichen Gesetzgeber, die in den zwecks Überleitung auf die Rechtsgeltung des MVG-EKD erlassenen MVG-EKD-Anwendungsgesetzen zwar auch zum Thema Einigungsstelle recht konkrete Regelungen getroffen haben, nicht aber auch eine solche für die in Fortfall geratene Regelung des § 37 Abs. 2 MVG-K zur besondere Schlichtungsstelle für erforderlich gehalten haben. Eine weiterhin gegebenes Erfordernis für die Rechtsgrundlage einer tariflichen „besonderen Schlichtungsstelle“ wurde bei Erlass der Anwendungsgesetze schlicht nicht mehr gesehen, nicht etwa „übersehen“. Das geschah vermutlich, weil es in mehr als 15 Jahren nur einmal zur Bildung einer besonderen Schlichtungsstelle gem. § 37 Abs. 2 MVG-EKD gekommen war.

Im vorliegenden Beschluss hat das Gericht noch richtig ausgeführt, dass Tarifregelungen einer ergänzenden Auslegung grundsätzlich nur dann zugänglich seien, wenn damit kein Eingriff in die durch Artikel 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie verbunden sei. Die ergänzende Auslegung eines Tarifvertrags scheide daher aus, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewusst ungeregelt lassen und diese Entscheidung höherrangigem Recht nicht widerspricht.

Es erschließt sich nicht, warum das Kirchengericht hier eine nicht von den Tarifvertragsparteien, sondern von ihm selbst zu schließende Regelungslücke erkannt haben will. Den Tarifvertragsparteien war ja die Änderung der Gesetzeslage nicht entgangen. Sie haben sich jedoch - zumindest seitens des DDN sehr bewusst - bisher nicht darauf einigen können, den Verweis künftig als solchen zu § 36 a MVG-EKD zu gestalten. Ihre grundsätzliche Fähigkeit zu einer solchen Tarifvertragsänderung besteht nach wie vor.

Der DDN war im Gesetzgebungsverfahren der Anwendungsgesetze über das Diakonische Werk zur Frage einer Regelung für eine dem MVG-EKD unbekannte besondere Schlichtungsstelle gefragt worden. Der DDN hat in seiner Stellungnahme deutlich gemacht, dass die Vorschrift seiner Auffassung nach mangels Nutzung obsolet sei. Die Kirchengesetzgeber sind dieser Auffassung gefolgt. Es besteht also keine „Regelungslücke“, sondern eine bewusste „Nichtregelung“ sowohl in den Anwendungsgesetzen der niedersächsischen Kirchen als auch im Tarifvertrag.

Ob das Kirchengericht hier aus eigenen Gerechtigkeitserwägungen heraus in Folge der Gesetzesänderung den Bedarf für eine Anschlussregelung sieht, der von den Kirchengesetzgebern und den Tarifvertragsparteien nur nicht erkannt worden sei, spielt keine Rolle, weil die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Regelungsbefugnis nun mal allein bei den Tarifvertragsparteien liegt. Das es trotzdem anstelle der Tarifvertragsparteien entschied, war ein schlicht rechtswidriger Eingriff in die durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützte Tarifautonomie.

Es bleibt zu hoffen, dass die Entscheidung im Beschwerdeverfahren vor dem KGH der EKD aufgehoben wird.